Vielleicht bleibe ich für immer

Vielleicht bleibe ich für immer

 

Als Mia das Grundstück mit dem verfallenen Haus und dem heruntergekommenen Garten in ihrem ägyptischen Heimatort betritt, ahnt sie noch nicht, welche Geheimnisse sich hier verbergen. Immer deutlicher kommen ihre Kindheitserinnerungen zu ihr zurück. Sie trifft auf Orte und begegnet Menschen, die in ihrem frühen Leben eine Rolle gespielt haben. Stück für Stück entdeckt sie die ganze grausame Wahrheit. Aber die Liebe besiegt die Schatten der Vergangenheit und öffnet Mia die Türe zu einer wunderbaren Zukunft. Eine Geschichte von Liebe, Schuld und Vergebung und der Suche nach dem grossen Glück.

 

Leseprobe

Die Lieblingspuppe

 

Ich sass am Tisch und hörte, wie meine Mutter in der Küche mit den Pfannen hantierte. Neben mir sass Deborah, meine Lieblingspuppe. Auch sie hatte einen kleinen Teller vor sich. Die Räume im Haus waren von Sonnenlicht durchflutet. Ich trug eine Schuluniform, die mir an den Hüften so weit war, dass wir sie mit einem Gurt zusammenschnüren mussten. Grüne Bluse, grüner Rock, Strümpfe bis zu den Knien.
Ich hörte, wie meine Mutter in der Küche sang. Dann kam sie mit einer Pfanne dampfendem Haferbrei zu mir an den Tisch. Sie füllte mir und Deborah duftenden Brei in unsere Schalen und setzte sich für einen Moment zu uns. Dann ging sie wieder in die Küche und packte mein Lunchpaket. Eine Tür im oberen Stock ging auf, man hörte Schritte und das Singen meiner Mutter erstarb.

 

Mia wurde frühmorgens von der Sonne geweckt. Sie hatte erstaunlich gut geschlafen. Als sie abends in die Villa zurückgekehrt war, hatte sie sich nicht durchringen können, das verlassene Haus zu betreten. Notdürftig hatte sie ihre Zähne mit einer Wasserflasche neben ihrem Nachtlager geputzt, die Shorts ausgezogen und war müde unter ihr Mückengitter geschlüpft. Zuerst konnte sie nicht einschlafen und fürchtete sich allein auf dem Dach. Nur das Wissen, dass Ali vor dem Haus sass und Wache hielt, liess sie die Augen schliessen. Bald war sie eingeschlafen und erst erwacht, als es schon ganz hell war. Mia setzte sich auf blickte direkt auf das blaue Meer hinaus. Ein paar Boote schaukelten in den Wellen, die Luft war warm und die Vögel zwitscherten. Mia lächelte. Sie musste daran denken, was vor ihr lag und ihre Fröhlichkeit war schlagartig verflogen. Sie musste sich heute wohl oder übel wieder in dieses Haus begeben und sich überlegen, was damit geschehen sollte.
Sie schlüpfte in ihre Shorts und ging nach unten in den Garten. Ali hatte einen Besen in der Hand und wischte den Weg. Der Besen war so alt, dass er kaum noch Borsten hatte und Ali sich die Arbeit eigentlich hätte sparen können. Sie nahm sich vor, bei der nächsten Gelegenheit einen neuen Besen zu besorgen. Ali begrüsste Mia mit einem Lächeln. Er machte ein paar Schritte in den Garten und kam mit einer weissen Blüte zurück, die er Mia entgegenstreckte. Die Blume duftete herrlich. Ali lächelte erneut und widmete sich dann wieder seinem Besen. Mia ging durch den Garten zur Terrassentür und betrat die Wohnung. Als erstes wollte sie eines der oberen Zimmer so herrichten, dass sie ohne Ekel ihre Sachen darin verstauen konnte. Sie ging die Treppe hinauf und trat in den sonnendurchfluteten Raum. Kurz entschlossen bückte sie sich und begann das Gerümpel zu entsorgen, das überall herumlag. Wie lange war das Haus leer gestanden? Früher war ihre Grossmutter mehrmals im Jahr nach Sharm geflogen aber seit sie vor Jahren krank geworden war, war die Wohnung unbewohnt.
Mia ging die Treppe hinunter in die Küche und suchte nach einem Abfalleimer. Sie fand ein paar alte Plastiktüten und machte sich daran aufzuräumen. Da lagen zerrissene Bettlaken, eingetrocknete Putzmittel, abgelaufener Insektenspray, verstaubte Lampen, Kerzenstummel, Tauchflossen und Taucherbrillen und noch vieles mehr. Mia füllte mehrere Säcke mit Kleinzeug und schleppte diese auf den Vorplatz. Dann rief sie Ali. Mit Händen und Füssen erklärte sie dem verwunderten Angestellten, dass er ihr helfen solle das grössere Zeug nach unten zu tragen. Gemeinsam schraubten sie Schränke und Betten auseinander, zerlegten Regale und Schubladen und schleppten alles auf den Vorplatz. Mia sortierte die alten Sachen nach Abfall und Dingen, die vielleicht noch geflickt werden konnten. Ein abgesessenes Sofa und mehrere kaputte Matratzen landeten auf der Abfall Seite, eine alte arabische Lampe, deren Sockel verstaubt und verbogen war, landete auf der Seite mit den Dingen, die mit etwas Wasser und Putzmittel, weiterverwendet werden konnten. Gegen Mittag wurde es immer heisser. Sie mussten eine Pause einlegen und etwas zu essen und zu trinken besorgen. Ali, dem der Schweiss von der Stirn tropfte, war froh, sich in seine Hütte zurückziehen zu können. Er brauchte dringend eine Verschnaufpause.
Mia trat auf die Strasse und überlegte in welche Richtung sie gehen wollte, als ein junger Mann auf sie zutrat.
«Hallo. Du musst meine neue Nachbarin sein», begann er das Gespräch in perfektem Englisch. «Ich habe dich schon den ganzen Morgen gehört. Scheint, als ob du hier zum Rechten schaust.»
Er streckte Mia die Hand entgegen.
«Ich bin Samir. Willkommen in Ägypten», meinte er freundlich. Nachdem Mia sich vorgestellt hatte, fuhr er fort:
«Ich habe auf dem Grundstück noch nie jemanden ausser Ali gesehen und war natürlich neugierig. Ich habe den Wachmann unseres Hauses gefragt und der hat mir verraten, dass die Enkelin der verstorbenen Besitzerin zu Besuch sei.» Freundlich lächelte er ihr zu.
«Ich habe dich ein wenig beobachtet. Was willst du mit dem ganzen Gerümpel, den du auf den Vorplatz geschleppt hast?»
«Das meiste muss weg», erklärte Mia. «Das Haus ist eine richtige Müllhalde. Wenn ich hier mehr als ein paar Tage verbringen soll, muss ich zuerst einmal aufräumen. Mich graust es, wenn ich die Wohnung betrete.»