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Aidan

«Was? Eine Heilerin?», rief Aidan aus. «Bist du jetzt total übergeschnappt? Mom, ich glaube nicht an Wunderheilung! Das ist alles nur Humbug. Das sind Leute, die ihren Kunden mit schönen Geschichten das Geld aus den Taschen ziehen. Die versprechen dir alles, was du hören willst, kassieren einen hohen Preis und dann sind sie weg. Und geholfen hat es noch nie jemandem!»
«Da irrst du dich, Aidan», sagte seine Mutter ruhig. «Die Cousine meiner Freundin war schwer krank. Sie hat diese Heilerin besucht. Schon ein paar Wochen nach ihrem Besuch ging es ihr deutlich besser und heute ist sie vollständig geheilt», berichtete Mirka.
«Das glaubst du doch nicht wirklich?» Aidan schaute seine Mutter zweifelnd an. «Bitte tue mir das nicht an!»
Seine Mutter blickte Aidan streng an:
«Nur, weil du etwas nicht kennst und nicht begreifst, nur, weil es für deine Augen nicht sichtbar ist, heisst es noch lange nicht, dass es sowas nicht gibt. Aidan, wir haben euch immer zu rational denkenden, vernünftigen Menschen erzogen. Dein Vater wollte das so. Aber ich sehe das anders. Ich bin in Rumänien aufgewachsen. In meiner Kindheit hatte es Platz für das Mystische, für Hellseher, Kartenleger und das Übersinnliche. Aidan, ich bestehe darauf, dass du mitkommst und es wenigstens versuchst. Wenn du nach diesem Besuch keine Besserung spürst, lasse ich dich nach Hause. Dann übergebe ich dich wieder den Ärzten. Ich will diese Chance bekommen. Es ist mir sehr, sehr wichtig.»
Aidan konnte nicht glauben, was er da hörte. Irritiert blickte er seine Mutter an. Er sah, wie bedeutend ihr diese Sache war. Seine Mutter war es gewohnt, ihre Bedürfnisse hinter die der Familie zu stellen. Sie tat dies aus Liebe für ihren Mann und ihre Kinder. In ihrem Blick konnte Aidan lesen, dass sie in dieser Sache nicht bereit war, einen Kompromiss einzugehen. Es war ihr wirklich wichtig. Aidan seufzte tief. Er wusste, er konnte sie nicht enttäuschen.
«Und, wo muss ich hin?» fragte er.
«In den Sinai, nach Ägypten.»

Aidan besucht Samira

«Hier müssen Sie aussteigen. Die Beduinensiedlung ist gleich da hinten. Ich warte hier auf Sie». Er stieg aus und öffnete Aidan die Tür.
Aidan lief in die Richtung, die ihm der Fahrer gewiesen hatte. Er passierte eine Art Barriere und erreichte eine kleine Siedlung. Die wenigen Häuser waren eng aneinandergebaut. Tiefe Betongebäude mit quadratischer Grundfläche und flachen Dächern. Ein paar Ziegen standen in einem Hinterhof und mehrere Frauen sassen auf einer Treppe und plauderten. Als Aidan näherkam, verstummten die Stimmen der Leute und alle blickten den Fremden argwöhnisch an.
«Ich suche Samira» sagte er zu einem Jüngling, der in seiner Nähe stand. «Kannst du mir sagen, wo ich sie finde?»
Die Gesichtszüge des jungen Mannes verdüsterten sich. Dann sagte er:
«Ich bin Samiras Bruder Rashid. Was willst du von ihr?»
«Ich bin mit ihr verabredet», sagte Aidan. Rashid musterte ihn von Kopf bis Fuss, bevor er ihm mit dem Kopf ein Zeichen gab: «Komm mit», meinte er.
Rashid führte Aidan um die Siedlung herum auf eine offene Lichtung. «Samira ist da hinten bei dem Berg», sagte er. Rashid hatte bemerkt, dass Aidan das Gehen schwerfiel. Er musterte ihn kritisch, als ob er abschätzen wollte, ob er die Distanz alleine schaffen würde. Dann deutete er stumm auf den Weg.
Aidan spürte die Blicke der Beduinen auf sich. Er fühlte sich hier nicht sehr willkommen. Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrt gemacht und wäre ins Hotel zurückgefahren. Aber er hatte es seiner Mutter versprochen und würde jetzt keinen Rückzieher machen. Tapfer ging er weiter. Es war windstill und die Sonne brannte heiss auf ihn nieder. Schon nach ein paar Schritten, tropfte ihm der Schweiss von der Stirn. Sein Atem ging schwer und seine Beine begannen zu zittern. Weit würden sie ihn nicht mehr tragen. Er blieb einen Augenblick stehen und atmete tief durch. Aber es nützte nichts, seine Beine zitterten immer stärker und die Schmerzen waren fast unerträglich. Hätte er doch wenigstens etwas zu trinken mitgenommen. Er fühlte sich so schwach, dass er nicht wusste, was er tun sollte. Zurück zum Taxi würde er es kaum schaffen. Der Berg, auf den Rashid gezeigt hatte und wo er Samira finden sollte, war nicht ganz so weit weg und versprach ein wenig Schatten. Wieder setzte er einen Fuss vor den andern. Er musste sich zusammenreissen.
Aidan hatte die Schritte hinter sich nicht kommen hören und erschrak, als er eine Stimme vernahm. Er blickte sich um und vor ihm stand ein kleines Mädchen, das einen Esel an einer Leine führte. Das Mädchen hatte dunkle Haut und wilde Locken, die ihr ungekämmt bis über die Schultern fielen. Sie trug eine Art Kleid, das an vielen Stellen schmutzig und zerrissen war. Sie war barfuss. Das Mädchen sagte etwas zu ihm. Als er nicht verstand, streckte sie ihm eine Flasche Wasser entgegen. Dankbar trank Aidan ein paar Schlucke. Das Mädchen redete weiter, aber Aidan verstand ihre Sprache nicht. Mit grossen, schwarzen Augen schaute sie ihn an und deutete mit dem Kopf auf ihren Esel. Als er nicht reagierte, nahm sie seine Hand und zog ihn ein paar Schritte weiter, so dass er auf einen Stein steigen konnte. Erneut deutete sie mit dem Kopf auf ihren Esel und bat ihn, aufzusteigen. Aidan zögerte. Ein Blick zum Berg hinüber liess ihn nachgeben. Er hob sein Bein und zog sich auf den Rücken des Esels. Das kleine Mädchen blickte zu ihm hinauf und ihre dunklen Augen leuchteten voller Freude. Sachte liess sie das Tier weitergehen und führte es in die Wüste. Aidan war kein gläubiger Mensch, aber jetzt, hier auf dem Rücken dieses Esels, der von diesem kleinen Mädchen geführt wurde und ihm wie ein rettender Engel erschienen war, musste er an Marias Reise nach Bethlehem und ihre Strapazen denken. Schnell stiess er den Gedanken weg. Die Hitze brachte ihn noch um den Verstand. Er glaubte nicht an diese Märchen. Zum Glück hielt der Esel wenig später im Schatten des Wüstenberges an. Das Mädchen half Aidan beim Absteigen. Sie reichte ihm nochmals ihre Flasche und lächelte ihn an. Dann drehte sie sich um und ging mit dem Esel davon. Aidan war wieder alleine. Müde liess er sich im Schatten auf einen Stein sinken, als eine Gestalt auf ihn zutrat. Die Frau war klein und zierlich. Sie trug ein dunkles, langes Kleid. Um ihr Haar hatte sie ein Tuch gewickelt und auch ihr Gesicht war verschleiert. Einzig ihre dunklen Augen waren zu sehen. Sie setzte sich in einiger Entfernung neben ihn auf einen Stein und sagte nichts. Sie sass nur da und schwieg. Er betrachtete die junge Frau, die wohl eher noch ein Mädchen war, aber durch ihre würdevolle, anmutige Art viel älter wirkte. Plötzlich war er sich sicher, dass er Samira gegenüber sass.
«Bist du Samira?», fragte Aidan nach einer Weile. Die Frau antwortete nicht und blickte ihn auch nicht an. Sie führte nur einen Finger an den Mund und deutete ihn an, zu schweigen. Dann verlor sich ihr Blick wieder in der Ferne.
Was sollte das? Was wollte sie von ihm? Sie sollte ihre Therapie möglichst schnell hinter sich bringen, damit er wieder abreisen konnte. Stattdessen sass sie nur neben ihm und machte gar nichts. Aidan räusperte sich. Aber immer noch bewegte Samira sich nicht. Sie sass nur da und atmete tief und ruhig, ihr Blick in die Ferne gerichtet. Aidan konnte es kaum aushalten. Er wollte etwas tun, hinter sich bringen, was er hier zu tun hatte und wieder in sein Taxi einsteigen. Er konnte die Stille um sich herum nicht ertragen. Er beobachtete die junge Frau und blickte dann in die Richtung, in der das kleine Dorf war. Hatte er eine Wahl? Er würde den Weg zurück zum Taxi alleine nicht schaffen. Es blieb ihm nichts anderes übrig, als hier zu sitzen und abzuwarten.
«Kannst du mir sagen, was wir hier tun?», fragte er schliesslich genervt. «Ich bin müde und möchte zurück ins Hotel.»
Wieder kam keine Antwort und Samira drehte auch nicht den Kopf. Nach weiteren zehn Minuten, in denen sie einfach still neben ihm gesessen hatte, sagte sie plötzlich:
«Ich kann dich nicht heilen.»
«Das sind ja tolle Neuigkeiten», stiess Aidan wütend hervor. «Ich komme den ganzen langen Weg zu dir und alles, was du zu sagen hast, ist, dass du nichts für mich tun kannst?» Aidans Stimme wurde immer lauter. «Du sitzt nur da und sagst mir, dass du es nicht einmal versuchen willst?», schrie er jetzt. «Ich habe es immer gewusst! Es bringt nichts! Du bringst nichts! Nichts bringt etwas!» Aidan schrie und schrie. Zuerst schrie er Samira an, dann die Wüste, dann den Himmel und sein Schicksal. Er schrie so lange, bis alles aus ihm heraus war und keine Worte mehr kamen. Dann lies er den Kopf sinken. Er war erschöpft und ausgelaugt. Samira war die ganze Zeit nur neben ihm gesessen und hatte gewartet. Erst als er ganz still geworden war, drehte sie den Kopf in seine Richtung.
«Ich kann dich nicht heilen», sagte sie erneut. Ihr arabischer Akzent war so stark, dass Aidan sich konzentrieren musste, um sie überhaupt zu verstehen.
«Wenn jemand dich heilen kann, dann bist das du ganz alleine. Alles, was ich tun kann, ist, dich in die Stille und in deine Kraft zu begleiten.» Wieder schwieg sie und atmete tief ein. Aidan blickte zu ihr hinüber. Jetzt, wo er seine ganze Wut herausgeschrien hatte, war eine Ruhe in ihm, wie er sie noch nie gespürt hatte. Er sah dieses Mädchen. Stolz und aufrecht sass sie da und atmete die heisse Wüstenluft ein und aus. Und bevor er wusste, was er tat, setzte er sich gerade hin und tat es ihr gleich. Er konzentrierte sich auf seinen Atem und liess alle Gedanken los. Es gab nur ihn und die Wüste, einen Atemzug nach dem andern. Keine Sorgen, keinen Schmerz, keine Angst und keine Zweifel. Nur Einatmen und Ausatmen.
Aidan wusste nicht, wie lange er im Schatten des Berges gesessen hatte. Erst als er Schritte hörte, öffnete er seine Augen. Das kleine Beduinenmädchen stand mit ihrem Esel vor ihm. Sie war gekommen, um ihn abzuholen. Seine Zeit bei Samira war wohl vorbei. Mit einem Blick zu seiner rechten versicherte er sich, dass die Heilerin noch neben ihm sass. Ihre Augen begegneten sich und bevor er sich erhob, hauchte Aidan fast tonlos:
«Kann ich wiederkommen?». Samira sah ihn schweigend an und ihre Augen gaben ihm ein Zeichen. Sie würde da sein.
Er sass schon auf dem Esel, als er plötzlich Samiras Stimme vernahm:
«Ein Leben ist das Aneinanderreihen von Tagen. Jeder Tag ist wie ein Leben, jedes Leben besteht aus Tagen. Dein Leben ist so gut, wie die einzelnen Tage, die sich in deinem Leben aneinanderreihen. Feiere jeden Tag von der Geburt am Morgen bis zum Tod am Abend. Dann hast du ein erfülltes Leben.»
Samira stand auf und ging in die Wüste davon.

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